Einkaufserlebnis in China
In China ist das Morgen im Handel – das neue Einkaufserlebnis – schon heute zu sehen. Eine Shopping Story von Dr. Gerd Wolfram
China ist der westlichen Welt bei der Digitalisierung im Retail weit voraus. Insbesondere in den letzten Jahren hat sie in allen privaten und geschäftlichen Bereichen Einzug gehalten. Online-Shopping und stationäres Einkaufen verschmelzen immer mehr miteinander. Das Smartphone baut die Brücken zwischen beiden Welten und bietet den Kunden neue Einkaufserlebnisse. Der asiatische Markt lebt erfolgreich vor, in welche Richtung sich der Handel in Europa und USA im Jahr 2025 entwickeln kann.
Einkaufen ist der neue Lebensstil
Mittlerweile ist Einkaufen in China keine lästige Aufgabe mehr, sondern eine Freizeitbeschäftigung und ein neuer Lebensstil. Das Einkaufen wird zum Erlebnis, zum digitalen Erlebnis. Es entsteht bei Interaktionen mit den vielfältigen Kontaktpunkten mit dem Händler – online wie offline. Kunden besuchen Webseiten, bewegen sich zum Einkaufen in sozialen Medien oder besuchen stationäre Geschäfte, um unterhalten zu werden und neue Trends zu entdecken. Insgesamt ist das neue digitale Einkaufserlebnis emotional, zwischenmenschlich und sozial, physisch wie auch virtuell, personalisiert und bequem. Es ist mit allen Sinnen genießbar, kognitiv, affektiv und einprägsam.
Digitalisierung bildet die Grundlage für das neue Einkaufserlebnis
Chinas Digitalwelt bildet die Basis für das digitale Einkaufserlebnis. Die stark ausgebaute digitale Infrastruktur mit Internet-Anschlüssen und dem Ausbau des 5G-Netzes machen ein digitales Leben komfortabel. Auch staatliche, wie auch lokale Behörden sind stark digitalisiert. Nicht umsonst hat China knapp eine Milliarde Internetnutzer und über eine Milliarde Smartphone-Nutzer. Zusätzlich ist der flächendeckende Einsatz von Schlüsseltechnologien mit verantwortlich für das digitale Einkaufserlebnis: Künstliche Intelligenz, Social Media, Videokommunikation, Electronic Payment und Robotik.
Dreh- und Angelpunkt des digitalen Einkaufserlebnisses ist das Smartphone
Ohne das Smartphone gibt es keine Verbindung zwischen Kunden einerseits und Online- sowie Offline-Händler andererseits. Dabei ist das In China etwas einfacher als in anderen Ländern. Weil hier beispielsweise Alibabas Tmall-App bereits auf den Smartphones von 500 Millionen Nutzern läuft. Gleiches gilt für WeChat. Einst von Tencent als WhatsApp-Klon gestartet, ist der Messenger längst eine Social-Media-Business-Plattform geworden, die alle Lebensbereiche der Chinesen verbindet. Neunzig Prozent der eine Milliarde aktiver monatlicher Nutzer schauen nicht nur täglich in die App. Zudem nutzen sie diese auch in einem erstaunlichen Umfang zum Einkaufen und Bezahlen. Und bescheren sich damit ein neues digitales Einkaufserlebnis – stationär wie Online.
Interaktives Online-Shopping in China
Chinas Online-Shopping-Markt ist nicht nur der größte, sondern auch der innovativste der Welt. Chinesen kaufen ein, wann immer sie wollen, wo immer sie wollen und lassen sich per Expresslieferung die Artikel nach Hause liefern. Das erfolgt zum einen zu geringen Lieferkosten und in den Großstädten innerhalb von circa 30 Minuten. Einfach zu bedienende Online-Seiten, mobile Apps und bequeme Bezahl-Lösungen haben das Wachstum im Online-Markt vorangetrieben. Online kann fast alles gekauft werden: Lebensmittel, Modeartikel, Luxusautos, Online-Kurse, Haustierpflege – die Auswahl ist unerschöpflich. Online-Shopping ist nicht langweilig, sondern interaktiv und bietet ein digitales Einkaufserlebnis. China ist auf dem besten Weg, das erste Land zu werden, in dem ein Großteil der Einzelhandelsumsätze online stattfindet. In China werden bis Ende dieses Jahres 52,1 % aller Einzelhandelsumsätze online abgewickelt werden. Das ist eine Steigerung von 7,3 % gegenüber 2020.
Chinesische Online-Anbieter bieten Multi-Service-Plattformen
Ob in klassischen Onlineshops oder auf Marktplätzen, die Kunden klicken sich durch die immer gleichen Produktlisten mit Fotos, Beschreibungen, Preisen, Lieferkonditionen und ggf. Kundenbewertungen. Und während es im Westen noch klare Plattformen für die unterschiedlichen digitalen Dienste gibt – Facebook für Social Media und Messaging, PayPal für Online-Zahlungen, Amazon als Online-Marktplatz – sind diese Grenzen in China längst verschwunden. Dort haben die erfolgreichsten digitalen Unternehmen sämtliche Produkte und Dienstleistungen im Portfolio und lassen sie über die unterschiedlichsten Kanäle miteinander verschmelzen. Damit bieten die chinesischen Online-Plattformen nicht mehr nur Online-Shopping, sondern ein Gesamtpaket, bestehend aus verschiedenen Services wie Online-Bezahlung, Social Media, Gaming, Messaging-Diensten, Videos und Live-Streaming. Somit decken sie sämtliche Bedürfnisse der Kunden ab (Multi-Service-Plattformen). Hinzu kommen in der Regel weitere Anwendungsdienste wie zum Beispiel Hotel- und Reisebuchungen, Konzertticket- und Kinokartenverkauf, Carsharing- und Taxidienste, um einmal einige zu nennen.
Innovationen im Online-Shopping
Die chinesischen Online-Anbieter lassen den Aufenthalt auf den eigenen Shopping-Apps und Online-Webseiten zu einem echten Erlebnis werden. Dazu trägt die lebendige Gestaltung vieler Produktdarstellungen bei Zum Beispiel werden viele Produkte über sogenannte „Unpacking-Videos“ angepriesen. Weiterhin werden umfangreiche Hintergrundinformationen zu spannenden neuen Produkten und Marken gegeben. Hinzu kommen viele spielerische Elemente, die den Online-Einkauf unterhaltsamer machen. Auch animierte Künstliche Intelligenz-Avatare, sogenannte virtual anchors – machen das Einkaufen erlebnisreicher und unterstützen menschliche Verkäufer.
Unterhaltung vor Effizienz – mit Gamification online Einkaufen
Viele chinesische Händler haben das Online-Einkaufserlebnis in ein Spiel verwandelt. Gamification ist nichts Neues, befindet sich aber weltweit erst im Anfangsstadium. Das zieht die Kunden stundenlang in den Bann, während sie durch Produkte und Dienstleistungen stöbern. Damit ist Online-Shopping zu einer nationalen Freizeitbeschäftigung geworden. Die Spiele und Algorithmen führen dazu, dass die Menschen stundenlang im Online-Shopping gefesselt sind. Die Kunden verbringen viel Freizeit damit, zu spielen, Produkte zu entdecken und zu kaufen, die ihnen gefallen, oft in engem Kontakt mit ihren Freunden und Familien.
Einkaufserlebnisse bei Shopping-Events
Zusätzlich zum Gamification sind im Online-Shopping sind zwei weitere Trends hervorzuheben: Online-Shopping Festivals und Online-Modenschauen. Bei diesen erhalten Kunden besondere Treuevorteile und profitieren von speziellen Rabattaktionen. In China wird Shopping auf einmalige Weise zelebriert, jede größere Verkaufsplattform veranstaltet eigene Festivals.
Shopping-Event Singles Day oder Double 11
Der Singles Day oder auch als Double 11-Festival bekannt, findet jedes Jahr am 11. November statt. Dabei wurde der Singles Day 1993 von Studenten zum Spaß ins Leben gerufen, um ihr Alleinsein zu feiern. Als Äquivalent zum Valentinstag beschenkten die Singles sich selbst oder nahmen an Events für Alleinstehende teil. Das nahm Alibaba – Chinas größter Online-Händler – zum Anlass im Jahr 2009 einen einzigartigen Shopping-Event ins Leben zu rufen. Dieses wurde später von den meisten anderen Einzelhändlern übernommen.
Inzwischen ist der Tag zum umsatzstärksten Online-Shopping-Ereignis der Welt geworden. Im Jahr 2019 steigerte ihn Alibaba auf 31 Milliarden Euro und im Jahr 2020 auf 47,7 Milliarden Euro. Allein nach dem Singles Day wurden eine Milliarde Pakete ausgeliefert. Insgesamt kooperiert Alibaba am Singles Day mit 180.000 Marken in über 190 Ländern weltweit für besondere Angebote. Darunter waren über 1.300 deutsche Marken.
TV- und Online-Spektakel am Singles Day
Alibaba feiert den Singles Day besonders. An diesem Tag findet eine Riesen TV- und Online-Show statt. Dabei interagieren über 300 Prominente in diversen Live-Streaming-Sitzungen mit den Kunden und Fans. Zusätzlich wird eine Live-Fashion Show als Stream angeboten. Die Kaufvorgänge gestalten sich komfortabel und zeitsparend: Es genügt einfach nur das Smartphone im richtigen Moment zu schütteln, um eine Bestellung auszulösen.
See Now Buy Now – sofortiges Einkaufen bei Online-Modenschauen
Auch Online-Modeschauen, bei denen Kunden während einer Modenschau Kleidung und Accessoires sofort auswählen und kaufen können, sind nachgefragt. Unter dem Motto „See Now Buy Now“ ist dies eine innovative Praxis in der Modebranche.
Livestream-Shopping in China
Eine weitere Entwicklung ist das Livestream-Shopping, die Verschmelzung von Online-Shopping und Livestream-Shopping. Es ermöglicht Kunden, digital in einem Geschäft „herumzulaufen“, den Inhabern oder Verkäufern bei der Präsentation von Produkten zuzuschauen und sogar sich mit anderen Kunden im virtuellen Geschäft auszutauschen, als ob sie tatsächlich dort wären – aber alles online. Von virtuellen Weinproben bis hin zu Livestream-Shopping-Partys – vieles funktioniert vom eigenen Sofa mit Tablet oder Smartphone.
Live-Shopping spielt sich zum Beispiel auf Social Media oder auf den Webseiten der Online-Shopping Anbieter ab. Die Kunden können live über einen Chat Kommentare schreiben und Fragen stellen, die der Verkäufer dann beantwortet. Per Button legen sie die Produkte in den virtuellen Einkaufswagen und bestellen sie direkt oder später online.
Key Opinion Leadern (KOLs) – die neuen Verkäufer
Die Unterschiede gegenüber dem klassischen Online-Shopping liegen insbesondere in der Interaktivität und der Kommunikation mit den Verkäufern (Key Opinion Leader/KOLs), die die Produkte präsentieren. Es kann kommentiert und diskutiert werden. Zusätzlich greift das Livestream-Shopping die Besonderheit des Influencer-Marketings auf. Der KOL genießt in seiner Community ein sehr hohes Vertrauen und bietet Marken einer sehr konkreten Zielgruppe an.
Autor Dr. Gerd Wolfram
„Die Kaufvorgänge gestalten sich komfortabel und zeitsparend: Es genügt einfach nur das Smartphone im richtigen Moment zu schütteln, um eine Bestellung auszulösen.“
Dr. Gerd Wolfram ist Partner von Digital Connection und CEO von IoT Innovation & Consult. Als studierter Wirtschaftsinformatiker, ausgewiesener Digitalexperte und einer langjährigen Erfahrung im internationalen Handel ist er Berater und Coach im Bereich der Digitalisierung. Als erfahrener Keynote-Speaker und Co-Autor des Buches „Digital Connection – die bessere Customer Journey mit smarten Technologien“ spricht und schreibt er über die Zukunft des Einkaufens, Innovationen, IT-Strategien und die Digitalisierung im Handel.
Social Media trifft E-Commerce – Social E-Commerce
Social E-Commerce nahm in China Fahrt auf, als die traditionelle E-Commerce-Branche vor einem Engpass stand: Ein gesättigter Markt, verschärfter Wettbewerb und steigende Kosten für die Kunden-Neugewinnung reduzierten die Gewinnmargen. Da erschien Social E-Commerce als geeignete Lösung. Seitdem erfreut er sich wachsender Beliebtheit und Vielfalt.
Social E-Commerce setzt primär auf das soziale Erlebnis als auf das Einkaufen an sich. Vielmehr nutzt dieser das Engagement von Gruppenaktivitäten und den sozialen Austausch. Im chinesischen Social E-Commerce werden die Nutzer mit einem personalisierten Feed zu Produkten und einem Versprechen von weiteren Rabatten konfrontiert, wenn sie auf ihren sozialen Medien ein „Team“ bilden können, das andere dazu bringt, mitzumachen und das gleiche Produkt zu kaufen. Sie können auch den Preis sehen, wenn sie sich entscheiden, nicht mit anderen zu kaufen, und sie können sehen, was andere kaufen. Die Ersparnis kann gering sein, aber für manche erheblich.
Digitale Einkaufserlebnisse machen das stationäre Einkaufen interessant
In China wird mehr online verkauft und mehr mobil eingekauft als irgendwo anders in der Welt. Trotzdem investieren führende Online-Anbieter in stationäre Supermärkte und Hypermärkte. Das erscheint auf den ersten Blick wie gegensätzliche Entwicklungen. Allerdings läutet das beim näheren Hinsehen die nächste Generation des Einkaufserlebnisses ein. Dahinter steht die vollständige Integration von Online, Offline, Logistik und Technologie in einer einzigen Retail-Wertschöpfungskette. Es entstehen neue stationäre digitale Einkaufserlebnisse.
„Kunden können selbst wählen:
Das Seafood in den Einkaufskorb legen und selbst zu Hause zubereiten oder gleich im Marktrestaurant vom Küchenchef zubereitet frisch genießen.“
Freshippo (Hema) – physisches Geschäft mit Marktcharakter und digitalem Komfort
Freshippo (auch Hema genannt) ist ein breit sortierter Supermarkt mit Fokus auf Frische. Das Angebot reicht über Fleisch, Obst und Gemüse bis hin zu Meeresfrüchten und lebenden Fischen, die fangfrisch aus Aquarien eingekauft werden können. Und die Kunden können selbst wählen: Das Seafood in den Einkaufskorb legen und selbst zu Hause zubereiten oder gleich im Marktrestaurant vom Küchenchef zubereitet frisch genießen. Das ganze Einkaufen wird mit dem Mobiltelefon begleitet. Jeder im Supermarkt angebotene Artikel lässt sich mit dem Mobiltelefon scannen. Damit bekommen Kunden nähere Produktinformationen, Produktbeschreibungen, Bilder und Preise, können sich über Nährstofftabellen, Herkunft, Frische und die Lieferkette informieren, erhalten ergänzende oder verwandte Produktempfehlungen. Ist der Einkauf abgeschlossen, scannt der Kunde seinen Warenkorb am Checkout-Terminal ein, selbst das zubereitete Essen wird mit verrechnet. Bezahlt wird per Mobiltelefon über Alipay, die Autorisierung wird via Gesichtserkennung geregelt.
Stationäre digitale Einkaufserlebnisse durch digitale Technologien
In den neuen Supermärkten kommen neben den Apps, dem QR-Code und den Mobiltelefonen weitere innovative Technologien zum Einsatz:
- Personalisierte Einkaufsempfehlungen durch künstliche Intelligenz
- Digitale Preisschilder aktualisieren die Preise im Supermarkt in Echtzeit
- Digitales Bezahlen mit der mobilen App oder Gesichtserkennung
- Automatisierter Service mit Robotern im Supermarkt-Restaurant
Kassierer- und Verkäuferlose Geschäfte in China
Die digitalen Technologien verbessern die auch die Effizienz des Einkaufens, erhöhen die Bequemlichkeit und helfen dabei bessere Produkte und Dienstleistungen anzubieten. Auf dieser Basis eröffnen viele Händler mittlerweile auch Kassierer- und Verkäuferlose Geschäfte. Diese Geschäfte werden besonders besucht durch Kunden, die zum einen technisch versiert und zum anderen eher Produkte rund um die Uhr einkaufen wollen als einen persönlichen Service suchen.
Digitalisierung ermöglicht neue Einkaufserlebnisse
Im chinesischen Handel ist die Digitalisierung weit vorangeschritten. Sie eröffnet neue Möglichkeiten des Einkaufens und Verkaufens. Heute ist in China digitales Einkaufen nicht nur ein Zahlungsmittel, sondern auch ein neuer Lebensstil. Man kann von Zuhause fast alles Einkaufen, von frischen Lebensmitteln zu neuen Autos oder Häusern. Auch wenn man unterwegs ist, reicht schon ein Mobiltelefon. Immer schneller, flexibler und bequemer wird das digitale Einkaufen. Und das Einkaufen macht zusätzlich Spaß. Es reicht über die bekannten Online-Plattformen hin zu Handy-Apps, Social Shopping über soziale Medien, Influencer-Marketing, Livestream E-Commerce und Livestream-Shopping, die kontaktlose Bezahlung im Alltag und spezielles Retailtainment und Online-Shopping-Tage in China.
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