Gaia-X versunken

Gaia-X versunken im Sumpf aus Desinteresse, Unfähigkeit und Pseudoaktionismus

Warum die „Euro-Cloud“ Gaia-X ein exemplarisches Trauerspiel ist.

Von Alain Blaes*

* Alain Blaes ist Geschäftsführer der Kommunikationsagentur PR-COM in München.

Zur DNA guter PR-Arbeit gehört das Prinzip: „Tue Gutes – und rede darüber“ Nimmt man es als Maßstab, dann muss es um Gaia-X traurig bestellt sein. Denn die Funkstille, die sich rund um dieses einstige „Leuchtturm-Projekt“ breit gemacht hat, kann man durchaus als Indiz dafür werten, dass es eben nichts Substantielles zu berichten gibt. Weder hört man ermutigende News, noch sieht man greifbare Ergebnisse. Die Nachrichtenlage vermittelt eher den Eindruck, dass Gaia-X im Gremien-Labyrinth angekommen ist: Ein Arbeitskreis hier, ein Sekundärprojekt da, von einem großen Entwurf oder gar konkreten Resultaten ist keine Spur zu sehen. Die beflissene Kleinarbeit gipfelt dann in so erhebenden Befunden des tief im Gaia-X-Projekt involvierten Bitkom wie: „Die zunehmende Relevanz des Edge Computings ist ein relevanter Markttrend.“ Ein Satz, den man sich bei vollem Bewußtsein einmal auf der Zunge, respektive im Ohr zergehen lassen muss, auch wenn´s weh tut. In der Zeitspanne für diesen Erkenntnisgewinn hat ein Google-Entwickler wahrscheinlich bereits einen neuen Cloud-Service aufgesetzt.

Derweil ziehen die Hyperscaler immer weiter davon. Während Google nach Jahren milliardenschwerer Verluste erstmals Gewinn vermeldet, verharrt Gaia-X im Stadium interner Diskussionen. Damit sind wir beim Kern des Problems. Globale Cloud Provider wie Amazon, Alibaba, Google, Microsoft und deren Kapitalgeber machen mit Megainvestitionen, strategischem Weitblick, atemberaubender Geschwindigkeit und brutaler Rücksichtlosigkeit ihr eigenes Ding. Gouvernementale deutsch-europäische Initiativen dagegen treten in lähmendem Konsensdialog und Kompetenzgerangel auf der Stelle.

Beide Ansätze sind ungefähr so vergleichbar wie eine Marsrakete mit einem Papierflieger. Und der verzweifelte Versuch, die Großen mit ins Boot, pardon Flugzeug zu holen, hat daran nichts geändert. Die können im Gegenteil jetzt noch besser ihr eigenes Ding machen und gleichzeitig ihre eigene Konkurrenzveranstaltung im Auge und unter Kontrolle halten. Diese Strategie – wenn man den Begriff in diesem Kontext überhaupt in den Mund nehmen darf – wäre höchsten dann sinnvoll, wenn man Naivität für eine Tugend hält. Stattdessen tendiert die Praxisrelevanz von Gaia-X ebenso gegen Null wie die Furcht der Hyperscaler vor potenzieller Konkurrenz aus Europa. Zu deren Stimmungslage passt ein grinsendes Smiley viel besser.

Übertrieben? Keineswegs. Wie die Situation in der Praxis tatsächlich aussieht, beschreibt treffend Christine Serrette, Technische Vizedirektorin des ITZBund, der die bereits real existierende Bundescloud als IT-Dienstleister des Bundes betreibt. Sie fordert die partielle Auslagerung von Bundescloud-Services in die Public Cloud weil es unmöglich sei, mit der technischen Entwicklung der großen Anbieter mitzuhalten und dieselben Services und Sicherheitsstandards vorzuhalten. Wenn dieser Befund richtig ist, und nichts spricht dagegen, dann gilt er um so mehr für Gaia-X. Im Gegensatz zur Bundescloud stellt dieses Projekt ja noch immer keine nutzbaren Services bereit. Dabei wäre gerade in der aktuellen Goldgräber-Stimmung rund um KI und ML eine unabhängige deutsche, oder besser europäische Cloud-Infrastruktur so wichtig. Aber auch hier nur Stillstand. Und was sagt der Bitkom zum Thema Regulatorik und Compliance? „Im Fokus in diesem Zusammenhang stehen politische Positionierungen & der Austausch zu diesen mit der Politik.“

 

„Die praktische Umsetzung technischen Fortschritts funktioniert im turbokapitalistischen Umfeld à la USA genauso wie unter dem staats- und parteimonopolitistischen Dirigismus nach Peking-Art. Es ist halt eine Frage der Priorität, wofür einhundertmilliardenschwere Sonderschulden herhalten sollen, die ja so gerne als „Sondervermögen“ vernebelt werden: für die Hardware-Träume des letzten Jahrhunderts oder für die digitalen Schlachtfelder der Zukunft.“

 

Aha! Statt sich um den Aufbau einer souveränen Euro-Cloud zu kümmern, werden politische Positionierungen mit der Politik erörtert. Willkommen in Absurdistan! Silicon Valley krümmt sich vor Lachen. Die diskutieren nicht, die machen. Besser könnte man den amerikanischen, chinesischen und sonstigen Cloud-Playern nicht in die Hände spielen. Während dort die Post abgeht, beschäftigen wir uns immer noch mit langatmigen Entscheidungsfindungs- und Abstimmungsprozessen, um den kleinsten gemeinsamen Nenner im Polit-Dschungel zu finden. Doch bevor wir jetzt aus gegebenem Anlass ins Bashing-Fahrwasser geraten: Die EU hat mit dem AI Act doch gezeigt, wie bewundernswert schnell, praxisnah und vorbildhaft sie auf komplexe Technologiefragen reagieren kann. Wieso nicht auch bei Gaia-X? Weil es dafür mehr als nur versierte Juristen braucht?

Das sind übrigens keine Systemfragen: Die praktische Umsetzung technischen Fortschritts funktioniert im turbokapitalistischen Umfeld à la USA genauso wie unter dem staats- und parteimonopolitistischen Dirigismus nach Peking-Art. Es ist halt eine Frage der Priorität, wofür einhundertmilliardenschwere Sonderschulden herhalten sollen, die ja so gerne als „Sondervermögen“ vernebelt werden: für die Hardware-Träume des letzten Jahrhunderts oder für die digitalen Schlachtfelder der Zukunft. Beides zusammen können wir uns nicht leisten. Dabei zeigen die russischen Aggression in der Ukraine und das chinesische Säbelrasseln in Sachen Taiwan überdeutlich, wie sich die Machttektonik gerade verändert. Wir sind uns doch weitgehend einig, dass nicht Panzer, Kanonen und Haubitzen, sondern Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und Machine Learning die wichtigsten Wirtschafts- und Machtfaktoren von morgen sind. Oder etwa nicht? Weder Deutschland noch Europa sind da konkurrenzfähig aufgestellt. Offensichtlich sind wir mit unserer verkrusteten, überbürokratisierten Klientelpolitik dazu gar nicht mehr fähig. Wir kümmern uns lieber um gesteuerten Konsens für die „richtigen“ Werte, als um die Relevanz harter Fakten. Insofern ist Gaia-X nur ein weiteres trauriges Indiz für systematische Realitätsverweigerung. Pippi Langstrumpf lässt grüßen.

Sind sich die Macher (ok, auch dies in diesem Zusammenhang ein sehr euphemistischer Begriff) von Gaia-X eigentlich bewußt über die Tragweite ihres Versagens? Es gefährdet die Grundlagen unserer Prosperität im globalen Wettbewerb genauso wie die geopolitische Bedeutung Europas in einer sich abzeichnenden multipolaren Welt. Stichwort: Digitale Souveränität. Wir alle werden in absehbarer Zukunft den Preis für die selbstgefällige Mischung aus Desinteresse, Unfähigkeit und Pseudoaktionismus bezahlen müssen. Der Begriff „Nachtwächterstaat“ bekommt in diesem Kontext eine ganz neue Bedeutung. Heinrich Heine müsste seine trüben Nachtgedanken aktuell sinngemäß abwandeln in: „Denk´ ich an Deutschland – und seine digitale Zukunft – in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.“ Schlaftabletten können scheinbar auch paradoxe Effekte haben.

 

 

 

 

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