Künstliche Intelligenz in der Industrie
Künstliche Intelligenz in der Industrie: Oberste Priorität für die Unternehmensführung
von Dr. Serhan Ili
In der deutschen Industrie ist mitten im Sommer eher Herbstblues als Urlaubsstimmung angesagt. Das Wirtschaftswachstum tritt auf der Stelle, der Ifo-Geschäftsklimaindex ist seit Mai im Sinkflug und die Industrieproduktion ebenso rückläufig. Neben den gegenwärtigen Herausforderungen wie höheren Finanzierungskosten infolge gestiegener Zinsen oder der Inflation inklusive höheren Energiekosten belasten auch längerfristige strukturelle Probleme wie eine überbordende Bürokratie, schleppende Digitalisierung und der Fachkräftemangel die deutschen Industrieunternehmen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) senkte jüngst seine Einschätzung für das Wirtschaftswachstum im laufenden Jahr für Deutschland von 0,1 auf -0,3 Prozent. Sollte sich die Prognose bestätigen, wäre Deutschland der einzige G7-Staat mit einer schrumpfenden Wirtschaft. Droht also die Herabstufung der deutschen Wirtschaft vom Zugpferd zum kranken Mann Europas?
Während manche Probleme der deutschen Industrie durch externe Faktoren entstanden sind, sind einige Baustellen hausgemacht. Zum Beispiel ist der mangelhafte Digitalisierungsfortschritt auch auf mangelnde Investitionen der Unternehmen in diesem Bereich zurückzuführen. Mit der Veröffentlichung des Chatbots ChatGPT Ende vergangenen Jahres hat die Digitalisierung eine neue Stufe erreicht. Mittels generativer künstlicher Intelligenz (KI) ist es nun für jedermann möglich, durch Anweisungen an einen Chatbot Text, Bilder, Musik, Videos oder auch Programmiercode auf qualitativ hohem Niveau von der KI erstellen zu lassen.
Künstliche Intelligenz bietet auch für die Industrie Chancen
In der Industrie sind Digitalisierung und künstliche Intelligenz keine neuen Themen. Bereits vor über zehn Jahren wurde der Begriff „Industrie 4.0“ geprägt, der die nächste industrielle Revolution durch die vollständige Digitalisierung des Produktionsprozesses und die intelligente Vernetzung aller Komponenten industrieller Prozessketten beschreibt.
Mit der Industrie 4.0 sollen Unternehmensziele wie Produktivitätssteigerungen, Kostensenkungen und eine Flexibilisierung der Fertigung erreicht werden. Künstliche Intelligenz stellt bei der erfolgreichen Implementierung der Industrie 4.0 einen bedeutenden Hebel dar. Dabei geht es primär um die schnelle Sichtung und Sortierung riesiger Datenmengen, das Erkennen von Mustern sowie das kontinuierliche Hinzulernen der selbstlernenden Algorithmen anhand einer zunehmenden Datenbasis.
Die möglichen Einsatzgebiete für KI sind vielfältig. In der Industrie wird KI bisher zum Beispiel bei Robotern, in der Qualitätskontrolle und der Predictive Maintenance, also der Analyse der Funktionsfähigkeit von Maschinen, eingesetzt. Mit dem nun erreichten Level bei der generativen künstlichen Intelligenz verbinden internationale Führungskräfte vor allem Optimierungen beim Kundenservice und dem Wissens- und Datenmanagement, wie eine Studie von Capgemini zeigt. Gerade aber in Bereichen wie zum Beispiel Marketing und Sales liegt das größte Potenzial für den Einsatz von KI und die Steigerung von Effizienz und Profit. Im Folgenden soll anhand von Fallbeispielen aufgezeigt werden, wie künstliche Intelligenz nicht nur zu den wirtschaftlichen Zielen, sondern auch zu weiteren übergeordneten Zielen eines Unternehmens wie Nachhaltigkeit signifikant beitragen kann.
„Digitalisierung ist kein notwendiges Übel, sondern kann ein leistungsstarker Katalysator für positive Veränderungen und neue Geschäftspotenziale sein.“
KI im Einsatz: vom optimierten Sales bis hin zu genau abgestimmten Lieferketten
Das deutsche Chemieunternehmen Renolit fertigt unter anderem Folien aus Polymer zur Fassadenrenovierung von Häusern an. Früher bestand der Verkaufsprozess aus mehreren Schritten, bei der der Installateur die Brücke zwischen dem Unternehmen und dem Endkunden darstellte. Denn dieser vermaß in physischer Form die Fassaden, um so den Bedarf an Folien festzustellen. Bei der Analyse des Sales-Prozesses wurden jedoch verschiedene Schwachstellen festgestellt: zum Beispiel konnte der Installateur nach der Vermessung der Hausfassaden nicht direkt überprüfen, welche Art von Folien verfügbar sind. Daraus resultierten Verzögerungen und verlängerte Projektlaufzeiten. Die Lösung des Problems: Die Entwicklung einer App zur Vermessung der Häuserfassaden auf Basis künstlicher Intelligenz. Die KI in der App ist in der Lage, durch Bilderkennung die Fassaden automatisch zu vermessen und den Folienbedarf zu berechnen. Außerdem können verschiedene Fassadenfarben virtuell visualisiert werden. Die virtuelle Vermessung dient der Erstellung eines Angebots, das direkt über die App mittels ERP-Software an den Kunden versendet wird. Die aggregierten Informationen aus den einzelnen Projekten ermöglichen Renolit zudem die Optimierung des Produktangebots und des Vertriebs. Durch die umfassende Digitalisierung im Industriebereich kann der Ressourceneinsatz optimiert und der CO2-Fußabdruck von Unternehmen reduziert werden.
Weitere Potenziale: Nachhaltigkeit und Erschließung neuer Geschäftsmodelle
Digitalisierung eröffnet auch Chancen bei der Erschließung neuer Geschäftsfelder. Das bestehende Geschäftsmodell kann ergänzt, optimiert oder sogar ganz ersetzt werden. Dabei bietet die Digitalisierung neue Ertragspotenziale. Zusammen mit der Volksbank pur und dem Beratungsunternehmen myclimate hat die ILI.DIGITAL AG eine App entwickelt, mit der Firmen ihren CO2-Fußabdruck auf Basis ihrer betriebswirtschaftlichen Daten berechnen können. Die generative künstliche Intelligenz der App wurde darin trainiert, die verschiedenen Posten der Betriebswirtschaftlichen Auswertung (BWA) in CO2-Emissionen über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg zu übersetzen. Für die Volksbank wurde durch die Entwicklung der KI-basierten Corporate Carbon Footprint-Anwendung ein neues wirtschaftliches Standbein erschlossen. Im Sinne des Beyond Banking-Ansatzes bietet sie nun ihren Firmenkunden eine Dienstleistung an, die über das klassische Banking hinausgeht und die steigenden Anforderungen bei der eigenen Umsetzung von Nachhaltigkeit berücksichtigt. Unternehmen haben damit eine einfache Methode zur Analyse ihrer CO2-Verursachung und können entsprechend reagieren. Davon profitiert nicht zuletzt auch die Umwelt.
Künstliche Intelligenz: Berührungsängste vermeiden
Die genannten Beispiele zeigen, dass Digitalisierung kein notwendiges Übel ist, sondern ein leistungsstarker Katalysator für positive Veränderungen und neue Geschäftspotenziale sein kann. Künstliche Intelligenz bildet dabei einen wichtigen Teilbereich. An einem Standort wie Deutschland, der durch einen rasanten Strukturwandel in der Industrie geprägt ist, ist es Teil einer vorausschauenden und verantwortungsvollen Unternehmensführung, diese Möglichkeiten optimal zu nutzen. Digitalisierung und KI müssen deshalb Teil der Unternehmens-DNA werden. Dafür zu sorgen und die entsprechenden Prozesse voranzutreiben, ist absolute Chefsache. Dann können deutsche Industrieunternehmen auch künftig im internationalen Wettbewerb bestehen.
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Foto von SevenStorm JUHASZIMRUS: https://www.pexels.com/de-de/foto/123-lass-uns-imaginaren-text-gehen-704767/